Es ist so weit: Der Sommer ist da, die Menschen machen sich auf in die Ferien. Viele von uns möchten umweltschonend unterwegs sein, da bleiben vor allem Wanderungen, Radtouren oder Urlaub mit der Bahn die erste Wahl.
Urlaub bei unseren nördlichen Nachbarn, in Deutschland, ist da naheliegend, wenn man nicht unbedingt in den warmen Süden strebt. Dann möchte man vielleicht ans Meer? Nord- oder Ostsee besuchen, die Heimat von Theodor Storm in Husum, die von Thomas und Heinrich Mann in Lübeck, Sylt oder Berlin vielleicht? Oder unter Umständen sogar eine Rundreise?
Man würde es ja gern mit der Bahn machen, aber dann braucht man nicht nur Geld, Zeit, Geduld und eine gute Landkarte (man weiss nämlich nie, wann und wo man «strandet»), sondern Nerven wie Drahtseile. Ich weiss, wovon ich spreche, ich fahre oft und gern Eisenbahn, auch in Deutschland, aber dort ist das Vergnügen leider sehr eingeschränkt.
Bahnfahren in Deutschland ist oft eine (ungewollte) Schienenkreuzfahrt mit ungewissem Ausgang. Der Spruch «Der Weg ist das Ziel» bekommt hier eine völlig neue, meditative Bedeutung. Im Ernst, das Eisenbahn-System in Deutschland ist ein Beleg des Scheiterns der Liberalisierungswellen, die von der EU-Kommission in inzwischen vier Eisenbahnpaketen durchgesetzt worden sind: Marode Infrastruktur, teuer, unzuverlässig. Deshalb wandern die Verkehre (Personen UND Güter) von der Schiene auf die Strasse, Tendenz steigend.
Die DG Move (sozusagen das «Verkehrsministerium» der EU) erklärt aber ernsthaft, das sei ein «Erfolgsmodell», die Bahnen seien in den letzten fünf Jahren besser und erfolgreicher geworden. Ob solcher Aussagen reibt man sich verwundert die Augen.
Dennoch ist die Öffnung des Internationalen Personenverkehrs (IPV) Teil des Verhandlungspakets in den aktuellen Gesprächen Schweiz-EU. Tatsächlich waren wir als SEV immer skeptisch – nicht etwa, weil wir gegen Europa oder eine Verständigung mit der EU wären, wie uns manche unterstellen, sondern ganz einfach, weil wir den bisher so erfolgreichen Schweizer ÖV schützen wollen und müssen. Auch wenn vielleicht nicht immer alles zu 100% top sein sollte: im internationalen Vergleich ist das Schweizer System spitze, unsere Nachbarn in Österreich nennen es einen Leuchtturm.
Ohne eingebildet zu sein: im Bereich des Schienenverkehrs könnten die meisten Nachbarstaaten sich eher an der Schweiz orientieren als anders herum: Zuverlässigkeit, Pünktlichkeit, vertakteter Verkehr – all das funktioniert gut und nachahmenswert. Aber mit der Öffnung des IPV wird tatsächlich ein System-Wechsel vollzogen, auch wenn das Bundesamt für Verkehr (BAV) Beruhigungspillen verteilt und behauptet, es werde alles nicht so schlimm. Die wichtigste Frage lässt das BAV unbeantwortet: Warum überhaupt ein System antasten, das besser ist als jede bekannte Alternative?
Die Antwort ist: Weil man hofft, die Folgen seien überschaubar, die EU-Kommission meine es eigentlich gut und am Ende komme es ja wahrscheinlich oder möglicherweise hoffentlich nicht so schlimm. Aber wenn man diese Tür einen Spalt öffnet, kann man sie nicht wieder schliessen, weil es nicht um ein paar Verbindungen mit Flixtrain geht, sondern um einen Systemwechsel.
Ich mache unseren BAV-Strategen einen Vorschlag: Verbringt eure Sommerferien in Deutschland. Reist dort mit der Bahn herum (versucht es zumindest); Deutschland ist ein schönes Land. Und wenn ihr aus diesen Sommerferien zurück seid (falls ihr es rechtzeitig schaffen solltet und nicht irgendwo strandet), dann erklärt ihr uns noch einmal, ob es wirklich eine kluge Entscheidung ist, das Schweizer Eisenbahn-System in Europa zur Disposition stellen. Dann diskutiert man faktenbasiert und nicht ideologisch.
Matthias Hartwich, Präsident Gewerkschaft SEV